Veröffentlichungsdatum: 08.11.2024
Am 1. November 2014, vor genau zehn Jahren, hat Andreas Brohm (parteilos) als damals 35-Jähriger den Job als Bürgermeister der ländlichen Kommune Einheitsgemeinde Stadt Tangerhütte in Sachsen-Anhalt angetreten. Zuvor war der studierte Dipl. Kaufmann als Musicalmanager tätig. Zeit, einmal Bilanz zu ziehen.
Herr Brohm, Sie sind jetzt genau seit zehn Jahren Bürgermeister einer Landgemeinde in Sachsen-Anhalt. Wie fällt Ihr generelles Fazit aus?
Es ist das letzte große Abenteuer in Deutschland, diesen Job mit Leidenschaft und Mut jeden Tag aufs neue anzugehen mit dem Wissen: Du kannst ihn nie richtig machen.
Sie haben sich mit 35 Jahren zur Wahl gestellt und hatten vorher keine Erfahrung in der Verwaltung, war das naiv?
Ja. Im Grunde völlig verrückt und ein Glücksfall für beide Seiten zugleich. Ich hatte gerade die Europatournee des Musicals „West Side Story Tour“ mit der Wiedereröffnung des Deutschen Theaters in München als Tourmanager beendet und die neue „We Will Rock You“-Tour, die in München im Herbst 2014 startete, mit vorbereitet. Nebenbei las ich die aktuellsten Lehrbücher zu moderner Kommunalpolitik und Verwaltungsleitung und traf dann auf die Realität. Das musste sich zwangsläufig in Reibungsprozessen entladen.
Vor welchen Herausforderungen standen Sie in der Kommune?
Die Kommune war ein einziger Scherbenhaufen. Meine Vorgängerin war lange abwesend und abgewählt. Keiner wollte schwere Entscheidungen treffen und die Herausforderungen angehen. Unzählige Wünsche und Befindlichkeiten, die man unbedingt sofort angehen müsste und natürlich hatte jeder dieser Wünsche seine Tücken. Diesen Scherbenhaufen galt es, zu einem Mosaik zusammen zu bringen.
Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes enthusiastisches Projekt - und was daraus geworden ist?
Ich sah so viele Chancen und glaubte, wir könnten alle irgendwie schaffen. Dem war leider nicht so. Insofern scheiterten einige Ideen.
Mit dem Projekt Dachschaden (der Sanierung des Daches des Neuen Schlossen in Tangerhütte) fügten sich dann Erfahrungen zu einem begeisternden Projekt zusammen. Die Dachsanierung für 250.000 Euro mit EU-Fördermitteln (Leader) ohne Mittel aus dem Haushalt der Einheitsgemeinde zu schaffen, war ein völlig neuer und innovativer Ansatz. Das Projekt wurde dann zur Blaupause für weitere tolle Projekt, die nur möglich wurden, weil die Bürgerinnen und Bürger selbst tätig wurden und eigenständig Lösungen fanden. Großartig, ich bin heute noch begeistert, was möglich ist, wenn wir gemeinsam gestalten wollen.
Sie haben auf neue Medien wie Twitter, Facebook und Instagram gesetzt. Wie kam das an?
Im politischen Geschäft war das sehr fortschrittlich und hat die Neider auf den Plan gerufen. Bei den Bürgerinnen und Bürgern kam und kommt es immer noch sehr gut an. Tangerhütte wurde so überregional positiv sichtbar und überhaupt wahrgenommen. Wir konnten begeisternde Geschichten glaubhaft transportieren. Tangerhütte und die Altmark wurden überregional als modern, oder auch sehr positive wahrgenommen. Medien wurden so auf uns aufmerksam und berichteten. Ein Beispiel: Die heute Dänische Botschafterin für Deutschland kam in den 1. drei Monaten ihrer Amtszeit zu uns und wollte uns kennen lernen, ohne Social Media hätte sie nicht von uns erfahren.
Aktuell digitalisieren Sie die Kommune. Klingt einfach, oder?
Für uns schon. Ist es aber nicht. Das liegt vor allem an dem unfassbar guten Team, welches wir in Tangerhütte haben und an unserer Lust, die Dinge einfach mal zu machen. Wir denken ganzheitlich und wollen die Transformation aktiv mit gestalten. Das ist eine Chance, die Dinge für alle einfacher zu machen.
Flüchtlingskrise, Corona, Energiekrise - irgendwas war immer. Wie sehr hat das die Arbeit in den Kommunen beeinflusst?
Wir sind gewachsen mit den Herausforderungen. Das Digitale Rathaus würde es so nicht geben. Oder das Netzwerk „Neue Nachbarn“. Es hat uns sehr deutlich gemacht, dass wir die Transformation schneller vorantreiben müssen, um zukünftige Herausforderungen zu bestehen. Wir haben viel geleistet und gelernt dabei.
Die ZEIT verortete Sie unter den 100 wichtigsten Ostdeutschen - der eigene Stadtrat wollte Sie abwählen. Beschreiben Sie einmal diese Welt zwischen den Extremen?
Verrückt. Das lässt sich nicht beschreiben. Da sind zu viele Emotionen drin, weil du als Bürgermeister das nie alleine schaffen kannst. Ohne die Leidensfähigkeit der eigenen Familie würde das nicht gehen. Ohne Mitarbeiter, die Verantwortung übernehmen, ohne Bürgerinnen und Bürger die sich engagieren, oder ohne Ratsmitglieder die gute, vielleicht auch mutige Entscheidungen treffen, kannst du den Job nicht machen. Und attestiert zu bekommen, „du kannst Nichts“ und parallel „du bist wichtig“ ist dann eine der Erfahrungen, die du nur in diesem besonderen Amt machen kannst.
Wir erleben eine Zeit, in der Amtspersonen bedrängt werden, vor ihren Häusern aufmarschiert wird, sie selbst freiwillig aus dem Amt gehen. Wie erleben Sie die aktuelle Zeit?
Ich finde, als Gesellschaft ist uns abhandengekommen, worum es in einer Demokratie geht. Um mitzumachen, sich einzubringen, Lösungen auszuloten oder fair und respektvoll miteinander umzugehen. Stattdessen wird gefordert, gemotzt und gemeckert, Schuldige werden gesucht und wer das am besten bedient, wird auch gewählt. Als Bürgermeister stehst du da ganz allein jeden Tag in der Verantwortung im Spannungsfeld zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Im Grunde hast du als Bürgermeister keine Chance, da du „nur“ das Gesetz im Blick haben musst. Alle anderen Akteure dürfen alles wollen. Der Bürgermeister muss prüfen, ob es möglich ist. Entscheiden darf ich doch gar nichts. Im Grunde kann ich eigene Ziele gar nicht erreichen. Das ist sportlich für die eigene Motivation. Das ist für meine Familie viel schwerer zu ertragen als für mich. Unsere Kindern lassen als Rechtfertigung, für meine ständige Abwesenheit noch den Grund gelten; “Papa muss noch kurz die Welt retten…” damit sind sie, teilweise noch einverstanden, dafür wäre es ok.
Was sollte eine Bürgermeisterin, ein Bürgermeister unbedingt mitbringen für so ein Amt?
Das kommt natürlich auch drauf an, wie man den Job für sich interpretiert und wie die Bürgerinnen und Bürger und die Gemeindevertretung diesen interpretieren. Im Idealfall: Das Herz auf dem richtigen Fleck und los geht es.
Der Job kann aber auch so beschrieben werden:
Du bist „Prügelknabe“ und „Problemlöser“, du musst Rampensau sein und auch Statist können. Du musst Fehler eingestehen, die du gar nicht gemacht hast oder bekommst Applaus, der anderen gebührt. Du musst mit dem Anspruch zurechtkommen, auf jede Frage die passenden Antwort zu haben. Du bist für jeden, jeder Zeit verfügbar und ansprechbar. Im Zweifel bist du immer Schuld und wenn es gut war, hätte man es aber auch noch besser machen können. Das man mit dir nicht respektvoll umgehen muss, ist ok für dich. Wenn nicht alles zum Wohle aller läuft, ist es ok, dir mit einem nachteiligen Artikel bei der Presse zu drohen. Du bist gern nicht zu Hause und legst nicht viel Wert auf Freunde und Familie. Dir liegt nicht viel an eigenen Entscheidungen. Du haftest gern für die Unwägbarkeiten woanders getroffener Entscheidungen? Dir fällt es leicht, Menschen von richtigen und notwendigen, aber unbequemen Entscheidungen zu überzeugen.
Du kannst dich nicht vorbereiten auf den Job, wer Lust hat auf Abendteuer: Einfach machen, mehr kannst du nicht lernen in deinem Leben.
Kontakt Andreas Brohm: steht Ihnen sehr gern für Fragen und Interviews zur Verfügung. Sie erreichen ihn unter der Telefonnummer 0163-2755967 sowie unter der E-Mail-Adresse A.Brohm@tangerhuette.de.
Hintergrund: Andreas Brohm (parteilos) ist seit dem 1. November 2014 Bürgermeister der Einheitsgemeinde Stadt Tangerhütte. Er ist Diplom-Kaufmann und war zehn Jahre lang Musical-Manager, etwa vom Queen-Musical WE WILL ROCK YOU. Die Einheitsgemeinde Stadt Tangerhütte befindet sich im Norden von Sachsen-Anhalt in der Altmark und hat rund 11.000 Einwohner. Diese leben in einer einmaligen Natur- und Kulturlandschaft.